Finanzielle Unabhängigkeit hätten wir wohl alle gerne, denn sie bedeutet, dass wir nicht mehr für Geld arbeiten müssen. Spätestens mit dem Renteneintritt sollten wir sie erreicht haben, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen. Es gibt aber einige Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die finanzielle Unabhängigkeit schon zwischen 30 und 50 zu erreichen, um so deutlich früher in ‚Rente‘ gehen zu können.
Heute wollen wir uns intensiver damit beschäftigen, was finanzielle Unabhängigkeit genau ist, wie wir sie erreichen können und für wen diese extreme Form von Frührente machbar und erstrebenswert ist. Denn eins ist sicher: FIRE erfordert viel Durchhaltevermögen und Disziplin und ist nichts für jeden.
Definition von FIRE
FIRE steht für Financial Independence Retire Early. Auf deutsch übersetzt heisst das ‚Finanzielle Unabhängigkeit, früher Ruhestand‘. Angestrebt wird also finanzielle Unabhängigkeit schon in jungen Jahren.
Unter finanzieller Unabhängigkeit versteht man, dass man genug Geld hat, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne dafür arbeiten gehen zu müssen oder vom Staat oder anderen Personen abhängig zu sein. Es ist also nicht gemeint, sich in die soziale Hängematte zu legen und von staatlicher Unterstützung zu leben. Und auch nicht, sich von den Eltern oder vom Partner aushalten zu lassen. Nein, man lebt von Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen, die man aus dem eigenen Vermögen erwirtschaftet.
Wer der FIRE-Bewegung folgt, möchte weg vom gesellschaftlichen Default. Der 9-to-5-Job mit 6 Wochen Urlaub im Jahr scheint eine sichere Bank zu sein, aber letztendlich verkauft man damit einen Grossteil seiner Lebenszeit gegen Geld. Oft in Jobstrukturen, die einen unglücklich machen. Wer finanzielle Unabhängigkeit anstrebt, möchte in erster Linie eins: frei sein. Selbst entscheiden können, wann er was tun möchte. Die ‚Rente‘ bedeutet dabei nicht, dass man den ganzen Tag faulenzt. Im Gegenteil – man kann sich mit voller Motivation dem widmen, was einen interessiert und Sinn gibt. Und das ohne Zwang, damit Geld verdienen oder es jemandem recht machen zu müssen.
Abgrenzung Finanzielle Unabhängigkeit vs. Finanzielle Freiheit
Finanzielle Unabhängigkeit und Finanzielle Freiheit wird oft synonym verwendet. Ich für mich mache einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen.
Unter finanzieller Unabhängigkeit verstehe ich, dass ich genug finanzielle Mittel habe, um meinen ganz normalen Alltag bestreiten zu können, ohne dass ich gezwungen bin, für Geld zu arbeiten. Dazu zählen auch Reisen und Hobbys im normalen Rahmen. Je nachdem, wie genügsam man ist, ist für die finanzielle Unabhängigkeit mehr oder weniger Geld nötig. Der eine kommt mit 1000 Euro im Monat aus, ein anderer braucht vielleicht 5000 Euro, um das Level halten zu können, auf dem er sagt ‚So ist es genug für mich‘. Bei finanzieller Unabhängigkeit geht es aber nicht darum, sich jeden Wunsch erfüllen zu können.
Das wäre dann aus meiner Sicht unter Finanzieller Freiheit zu verstehen – dass man sich so ziemlich alles leisten kann, was das Herz begehrt. Ein Chalet, eine Yacht, Luxusreisen und so weiter. Um das zu erreichen, muss man es in den Kreis der Multimillionäre oder Milliardäre schaffen. Das wird den wenigsten gelingen.
Verschiedene Formen von FIRE
Viele Wege führen zu finanzieller Unabhängigkeit. Welcher der richtige ist, muss jeder für sich herausfinden.
FIRE kann verschiedene Formen annehmen:
FIRE als Sprint: wenn man den FIRE-Gedanken hardcore verfolgt, versucht man alle Hebel in Bewegung zu setzen, um sein Ziel in Turbogeschwindigkeit zu erreichen. Man will so früh wie möglich frei sein. Für den Preis, dass das Leben in jungen Jahren extrem stressig und entsprechend entbehrungsreich ist – zum einen, weil man sehr viel arbeitet, und zum anderen weil man von dem hart verdienten Geld jeden Cent zweimal umdreht, um möglichst viel zu sparen.
- Fallbeispiel: Nehmen wir Lukas. Lukas weiss schon mit Mitte 20 nach seinem Studium, dass er mit 40 in Rente gehen möchte. Deshalb hängt er sich in seinem Job voll rein. Arbeitet extrem viel, um sein Gehalt stetig steigern zu können. Er lebt sehr genügsam, weil er eine hohe Sparrate erreichen möchte. Das Geld legt er u.a. in breit gestreuten Welt-ETFs am Aktienmarkt an, um eine gute Rendite zu erzielen, ohne dabei alles aufs Spiel zu setzen. Mit dem FIRE-Rechner von escapetherace hat er stets im Blick, wie lange es voraussichtlich noch dauern wird, bis er die finanzielle Unabhängigkeit erreicht hat. Sobald absehbar ist, dass er genug Vermögen aufgebaut hat, um damit bis zu seinem Lebensende auszukommen, läutet er die nächste Phase ein. Er kündigt seinen Job und widmet sich ab sofort nur noch seinen eigenen Projekten.
FIRE als Marathon: wem das zu extrem ist, der kann es auch langsamer angehen lassen. FIRE kann man in den verschiedensten Abstufungen machen. Bei der Marathon-Variante geht es darum, auch während der Arbeitsphase schon Freiheiten zu schaffen, die über die normalen Wochenenden und Ferien hinausgehen. Zum Beispiel über Sabbaticals oder Teilzeit. Trotzdem liegt ein Fokus darauf, ein gutes Gehalt zu erreichen und einer hohen Sparrate. Es dauert auf diese Weise einfach entsprechend länger bis man die finanzielle Unabhängigkeit erreicht.
Auch hier ein Fallbeispiel – nämlich mich selbst: Mein Mann und ich haben vor einigen Jahren ein dreimonatiges Sabbatical gemacht und sind in dieser Zeit durch Südamerika gereist (hier geht es zum Reisebericht!). Ausserdem arbeiten wir seit fast 10 Jahren in Teilzeit – mittlerweile nur noch jeweils im 60%-Pensum. Hätten wir unsere Jobs in Vollzeit durchgezogen, wären wir längst finanziell unabhängig, aber die letzten Jahre wären auch um einiges stressiger gewesen. Das muss am Ende jeder für sich selbst abwägen, wo er seine Prioritäten setzt.
Woher weiss ich, dass ich finanziell unabhängig bin?
Die Berechnung, ob du bereits finanziell unabhängig bis zum Rest deines Lebens bist, ergibt sich aus mehreren Komponenten:
- Dein Vermögen: hierbei ist zum einen entscheidend, wie viel Vermögen du bereits hast, aber auch welche Rendite es bringt. Denn die Rendite sorgt dafür, dass dein Geld auch in der Rentenphase für dich arbeitet und sich weiter vermehrt. Dabei gilt: je länger dein Anlagehorizont ist, umso mehr Risiko kannst du eingehen. Und je näher du an die Rentenphase kommst, umso vorsichtiger sollte die Strategie sein, damit nicht eines Tages der Pleitegeier über dir kreist.
- Deine monatlichen Einnahmen: in der Ansparphase fällt hierunter auch dein Gehalt. In der Phase der finanziellen Unabhängigkeit bleiben noch Mieteinnahmen und ab einem bestimmten Zeitpunkt die gesetzliche Rente, Betriebsrente und private Renten.
- Deine monatlichen Ausgaben: hierunter fallen sämtliche Fixkosten wie Miete, Versicherungen, Strom und variable Kosten für Kleidung, Hobby und so weiter. Bei der Abschätzung der Ausgaben bitte realistisch sein. Es bringt am Ende nichts, wenn man sich die Zahlen schönrechnet und dann kommt raus, dass das Geld nicht reicht.
Was man in der Berechnung einbeziehen muss, sind:
- die Inflation: sie sorgt leider dafür, dass die Kaufkraft deines Geldes immer weniger wird. Sprich: von 100 Euro heute kannst du mehr kaufen als von 100 Euro in 20 Jahren. Du wirst also mit den Jahren immer mehr Geld benötigen, auch wenn dein Lebensstandard gleich bleibt.
- Kapitalertragssteuern: für Kapitalerträge in Deutschland muss man 25% Steuern bezahlen. Das bedeutet, dass du leider die Renditen, die deine Geldanlagen abwerfen nicht komplett selbst für dich nutzen kannst. Auch das muss in der Rechnung einkalkuliert werden.
- Lebenserwartung: wir alle sind sterblich, also muss dein Geld nicht ewig reichen. Laut statistischem Bundesamt liegt die Lebenserwartung für Männer derzeit bei ca. 78 Jahren, bei Frauen sind es ca. 83 Jahre. Deine Lebensweise, deine Gene und das Schicksal haben Einfluss darauf, wie es mit deiner individuelle Lebenserwartung aussieht. Im Netz gibt es Seiten, die dir dabei helfen, deine persönliche Lebenserwartung abzuschätzen, zum Beispiel den Longevity Illustrator. Dieses Alter kann man dann als Bis-Datum hernehmen, d.h. bis dahin soll das Vermögen mindestens reichen.
Mein Mann und ich haben zusammen einen FIRE-Rechner entwickelt, mit dem du ganz einfach ausrechnen kannst, wie lange du mit deiner aktuellen Situation finanziell unabhängig wärst. Du gibst einfach deine Vermögenswerte samt Rendite ein, deine Einnahmen und Ausgaben – und schon bekommst du angezeigt bis wann du mit dem Geld hinkommst. Hier geht es zum Rentenrechner! Wir geben dort unsere Zahlen regelmässig ein und haben so immer im Blick, wie es aktuell aussieht. Wenn wir nach der durchschnittlichen Lebenserwartung gehen, haben wir es schon geschafft, unsere Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aber wir wollen nicht zu knapp kalkulieren. Wer weiss, vielleicht haben wir ja das Glück 100 zu werden oder es tauchen unerwartete finanzielle Herausforderungen auf. Wir wollen lieber noch ein bisschen Puffer für Unvorhergesehenes aufbauen, bevor wir den grossen Schritt gehen und unsere Angestelltenjobs an den Nagel hängen.
Und was macht man in der Finanziellen Unabhängigkeit?
Die wenigsten werden sich in der finanziellen Unabhängigkeit tatsächlich den ganzen Tag in die Hängematte legen. Dafür sind wir Menschen wahrscheinlich auch gar nicht ausgelegt. Jeder möchte gerne etwas tun, das ihm sinnvoll erscheint. In der finanziellen Unabhängigkeit hast du die Möglichkeit, das zu tun, was dir Spass macht. Die einen arbeiten saisonal als Ski- oder Surflehrer. Ein Softwareentwickler pickt sich nur noch besonders spannende Projekte heraus oder macht sich selbständig und entwickelt Anwendungen zu seinen eigenen Ideen. Auch für Ehrenämter wie z.B. im Tierschutz bleibt dann endlich mehr Zeit.
Die finanzielle Unabhängigkeit bietet viele Möglichkeiten – und alles mit dem Wissen im Hinterkopf, dass man finanziell abgesichert ist. Man kann noch Geld verdienen, aber der Druck dahinter ist nicht mehr da.
Fazit
Die FIRE-Bewegung ist faszinierend, aber sie ist kein einfacher Weg und sicher auch nicht für alle gleich erstrebenswert. Sie erfordert Disziplin, Weitsicht und manchmal auch Verzicht – zu den Voraussetzungen und den Preis, den man für finanzielle Unabhängigkeit zahlen muss, gehe ich im nächsten Artikel näher ein.
Letztlich geht es bei FIRE darum, wieder mehr Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen, seine Prioritäten neu zu setzen und selbst zu bestimmen, wie und wofür man seine Zeit einsetzen möchte. Ob du dich für einen Sprint oder einen Marathon entscheidest oder FIRE nur als Anregung nimmst, um dein Verhältnis zu Geld und Arbeit zu überdenken, bleibt ganz dir überlassen.
Wichtig ist: Finanzielle Unabhängigkeit ist nicht gleichbedeutend mit einem goldenen Ticket in die absolute Freiheit – aber sie kann dir die Sicherheit geben, dein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Vielleicht ist genau das die größte Freiheit überhaupt.